Brauchen wir Design? Oder braucht es uns?

Lässt man einmal Revue passieren, was seit über 200 Jahren die Geschichte der (westlichen) Modernisierung wesentlich mitgeprägt hat, kommt man am Design nicht vorbei – heute mehr denn je. Mag auch weiterhin fraglich bleiben, was mit dem Programmwort „Design“ eigentlich gesagt sein soll, so fällt die Antwort auf die erste gestellte Frage hingegen eindeutig aus: Ja, wir brauchen Design.

Ob wir es nun in einem weiten Sinne auf die menschlichen Uranfänge zurückdatieren und es als anthropologisch Grundkompetenz verstanden wissen wollen oder ob wir es in einem engen Sinne eher auf die spezifischen Herausforderungen der (post-)industriellen Gesellschaft beziehen und es selbst als ein Produkt der modernen Geschichte begreifen; im einen wie im anderen Fall scheinen wir gegenwärtig schon keine Wahl mehr zu besitzen.

Wir „brauchen“ das Design nicht bloß im doppelten Sinne eines Benutzens und Bedürfens. Umgekehrt macht das Design mittlerweile den alltäglichen Gebrauch und Verbrauch von Arte- oder Mentefakten allererst möglich. Man denke nur an die App-Industrie, die ohne den gestalterischen Kunstgriff, Smartphones aus einer black box von Daten in einen black mirror von Nutzerbedürfnisse zu verwandeln, undenkbar gewesen wäre.

Doch damit nicht genug. Die Auswirkungen des Designs reichen bereits weiter und tiefer; so weit und so tief, dass das Design für uns zu einer Art Bedingung unserer eigenen Möglichkeiten als moderne Menschen geworden ist. Wie sich wohl jeder sofort eingesteht, der nicht die größten Anstrengungen aufbietet, sich noch des Gegenteils zu versichern, wären die meisten von uns kaum überlebensfähig, käme es bspw. zu einem endzeitlichen Szenario, in dem jeder technische Support von einem auf den nächsten Moment entfiele. Doch wäre daraus zu schließen, dass man seine „natürliche“ Autarkie gegen alle „technischen“ Verlockungen der Kultur wiedererlangen müsste? Streng genommen gehört es vielmehr seit jeher zur „Natur“ des Mensch zugleich seine „Kultur“ als eine „zweite“ Natur zu besitzen, ohne die von einer „ersten“ gar nicht die Rede sein könnte; eine Kultur der Künste und Techniken, zu denen sich spätestens mit der industriellen Revolution auch die Kulturtechnik des Design gesellt hat.

Doch diese designkritischen bis designskeptischen Anstrengungen selbst einmal genauer unter die Lupe genommen – wovon zeugen sie? Zunächst erhärtet sich der Verdacht: Der Versuch eines radikalen Ausstiegs, die Aufkündigung einer vermeintlich unnatürlichen oder uneigentlichen Lebensgestaltung scheint lediglich jene Ausnahme zu bilden, die wiederum eine Regel bestätigt, der sie im Grunde selbst noch verpflichtet bleibt. Wer sich heutzutage den Tücken des Designs zu entziehen sucht, findet sich unversehens bloß in einer anderen, wenn auch kritischen Form der „Lebensgestaltung“ wieder. Von alternativen Ansprüchen bis zu zeitweiligen Zugeständnissen – eine bewusste Auseinandersetzung mit Designfragen verstärkt vielmehr noch die Aus- und Einwirkungen des Designs, indem sie sie bis in die kleinsten Details der Lebensführung erweitert.

Unter den Bedingungen eines reflexiven Kapitalismus fungiert Kritik nicht selten selbst als Movens für eine weitergehende Kolonialisierung der Lebenswelt, gerade indem sie diejenigen Nischen erst auftut, die in der Folge kommerziell besetzt werden. Mag die unsichtbare Inskription „Fit for Fun“ über dem Eingang zur Hölle der Fitnessstudios (allein schon dieses Wort!) auch auf eine schiere Selbstparodie hinauslaufen, angesichts der wirklichen Herausforderung, sein Leben in der Wildnis zu meistern, so mangelt es letzterem nicht weniger an einer gewissen Tragikomik, es überhaupt noch darauf ankommen zu lassen – eingepackt in den neusten Frischhaltefolien von Jack Wolfskin. Man fasse dies gerne unter der Rubrik: „Jedem Tierchen sein Pläsierchen“, aber damit ändert sich gerade nichts an dem Umstand, sondern er findet sich erneut bestätigt, dass mittlerweile sowohl von kritischer als auch affirmativer Seite her zur allgemeinen Forderungen erhoben wird, sein eigenes Dasein als ein Design zu begreifen. – Wir brauchen nicht nur Design, wir sind selbst zu einem Designobjekt bzw. -objekt geworden.

Geht man von hieraus noch einen Schritt weiter, scheint sich mit diesem überdeutlichen Ja, jedoch umgekehrt die Frage zu stellen, ob das Design in Zukunft uns eigentlich noch braucht? – Diese zugestandenermaßen etwas radikale Skepsis gegenüber uns sogenannten Nutzern drängt sich jedoch bei Veränderungen unseres Alltags zusehendes auf, die wir nicht nur alle beobachten dürfen, sondern teilweise auch alle schon durchlaufen müssen. Benutzer und Benutztes gleichen sich nicht nur wörtlich immer mehr einander an. Was uns zu Designsubjekten in dem Sinne macht, dass wir nicht allein Akteure sind, die auf andere Objekte gestalterisch Einwirken oder sie gar hervorbringen, sondern dass wir uns selbst zu Objekten machen, egal ob in körperlicher (Kosmetik, Herzschrittmacher etc.) oder in psychischer Hinsicht (Coaching, Therapie etc.), die wiederum unsere menschliche Subjektivität verändert – diese gestalterische „Subobjektivierung“, wenn man so will, geschieht nicht von ungefähr in einem Umfeld, das den revolutionären Designbegriff der Moderne einer erneuten Revolution, gleichsam selbst einem Redesign unterzieht.

Design vermittelt heute nicht mehr nur zwischen Subjekten und Objekten, auch ist die Gestaltung von Intersubjektivität im Zeichen der social media mittlerweile schon eine Selbstverständlichkeit, sondern zunehmend geht es um eine Gestalt von Interobjektivität, die zuletzt wohl uns Menschen selbst noch außen vor lassen könnte. Gemeint ist damit eine beim Systemdesign ansetzende Tendenz des Designs von inter-maschinellen Abläufen, die im Zuge der Digitalisierung die Schwelle der Wahrnehmung überschritten hat und sich nun gleichermaßen in Sphären abspielt, mit deren Hyperkomplexität (bspw. Big Data) wir nur vermittels autonomisierter Programme  noch umzugehen vermögen.

Mit anderen Worten zielt die Frage, ob das Design uns eigentlich noch braucht, darauf ab, inwieweit es ein Fluchtpunkt der technischen Entwicklung sein könnte, dass es in Sachen Design zuletzt nicht mehr nur um die einseitigen Interessen menschlicher Nutzer geht, sondern gleichermaßen um die Interessen anderer Akteure (oder mit Bruno Latour: „Aktanten“) und zwar im Sinne eines künstlichen Lebens oder einer künstlichen Intelligenz, mithin um wechselseitige Interessen der Verständigung und Kommunikation. So wäre „Design“ in Zukunft womöglich nicht mehr nur Ausdruck des Projekts, Arte- und Mentefakte in den Dienst des Menschen zu stellen, sondern die Definition des Designs, zu der es paradoxerweise gerade zu gehören scheint, dass sie sich tagtäglich erweitert, befasste diese anthropozentrische Perspektive („Human-Centered Design“) als ein bloßes Moment einer weitaus komplexeren Struktur in sich. Das menschliche Dasein ist nur eine Gestalt des Designs.

Design steht demnach von Beginn (der industriellen Moderne) an für den Prozess einer fortschreitenden Hervorbringung und Hervorlockung dingweltlicher Potentiale, deren Produkte uns gegenwärtig schon als „Virtualitäten“ im Doppelsinne von Tugenden und Vermögen vor Augen stehen. Von einem modernen Fortschritt des Menschen oder gar der Humanität zu sprechen, scheint – abseits aller gängigen Kritik – nicht zuletzt deshalb einseitig, weil diese Sichtweise die dem Prozess eigenste Emanzipationstendenz gleichsam wie ihren blinden Fleck übersieht: die zunehmende Artifizialität der Objekte, ihre Künstlichkeit, ihre Kunst, ihr Können. Die Rede ist also von einer quasi objektiven Kunstfertigkeit, uns Mittel an die Hand zu geben und Wege zu eröffnen, die eifrigste und eigentümlichste Selbstsorge zu betreiben, mithin uns als lebende Kunstwerke zu entwerfen, wie Michel Foucault es bereits vorschwebte.

Doch alles hat seinen Preis, zumindest einen Tauschwert und auch für diese Gestalt von Schönheit muss man leiden. Wir designen nicht nur, sondern werden zugleich designt und zwar nicht nur von uns selbst als „Subobjekte“ oder als Exemplare der menschlichen Spezies. Jede google-Recherche ist ein Lernvorgang zugleich menschlicher sowie künstlicher Intelligenz. Nicht nur wir verstehen unsere mittlerweile hybride Umwelt besser, indem wir sie auf die unterschiedlichsten Informationen hin auslesen, sondern neben den verwendeten Assistenzsystemen, tut es auch zusehends die Umwelt selbst, indem sie uns umgekehrt besser einzulesen versteht.

Sollte uns also zuletzt nicht gerade dieser Umstand skeptisch gegenüber dem Design stimmen? Müssten wir nicht kritisch fragen: Dürfen wir Design derart überhaupt (ge)brauchen? – Die Antwort hierauf könnte lauten: Wir kommen ohne Design nicht mehr aus; wir brauchen und gebrauchen es ebenso, wie auch umgekehrt eine künstliche Intelligenz, die unser Dasein designt, auf uns (vorerst) nicht verzichten kann. Vielmehr ist Design gerade diejenige Bedingung der Möglichkeit von subjektiver und objektiver Interaktion, die der Modernisierung allererst ihre emanzipatorische Eigendynamik verschafft hat; eine Dynamik jedoch, die womöglich dadurch gerade schon über den menschlichen Horizont hinausweist.

Sind wir also im Begriff, uns selbst abzuschaffen, indem wir Kreaturen erschaffen, die uns über den Kopf wachsen? Diese Ironie der Kreativität, die auch vor Gott nicht halt gemacht hat, trifft womöglich auch uns, ja, hat uns womöglich schon getroffen. Man spricht bereits allenthalben von einer technologischen Selbstüberwindung des Menschen, spricht vom angebrochenen Zeitalter des Transhumanismus. Man muss nicht allzu skeptisch sein, um hieran einiges bedenklich zu finden; man sollte jedoch auch nicht derart hyperskeptisch sein, dass ein Nachdenken über eine womöglich posthumanistische Zukunft sich in Aporien des Unvorhersehbaren verliert. Die aktuelle Gegenwart ist nicht weniger aporetisch aus dem entgegen gesetzten Grund einer gnadenlosen Vorhersehbarkeit: Denn was bleibt uns noch – wenn wir ehrlich sind – von uns als Humanisten in Zukunft? Ja, was ist von den vergangenen Träumen des Humanismus heute überhaupt geblieben? Wollte man es positiv wenden, könnte man sich gut zureden: Es gehört zum Design des Menschen, auf ein ständiges Redesign angelegt zu sein. Doch manche Modelle erweisen sich in der Zukunft eben auch vom Ansatz her als veraltet.

Streng genommen sind wir gestalterisch in dieser Zukunft nun angekommen, und scheinen doch in Gedanken schon immer dort gewesen zu sein. Denn wem gehörten diese Gedanken, wer wäre ihr Autor, wer ihr Urheber? „Es denkt“, heißt es dazu trocken bei Nietzsche, und dieser moderne Zweifel an der eigenen Autorität hat die virtuell wikungsmächtigsten Gedanken hervorgebracht. Heutzutage sehen wir angesichts einer Augmented und Virtual Reality auch mit unseren eigenen Augen, wie weit ein nicht zwingend menschliches, egozentristisches Denken, eine neue netzwerkartige, dezentralisierte Intelligenz einerseits tatsächlich noch menschliche Bedürfnisse bedienen kann, während sie sich andererseits von jeder herkömmlichen Vorstellung des Menschen bereits verabschiedet hat. Doch gerade heute, wo wir uns unverhohlen mit Simulationen unserer Sichtweise und Simulakren unserer selbst umstellen, meint man doch zumindest den (einen) Gedanken klarer zu fassen: Das „Menschliche“ ist bloß eine Perspektive unter vielen, die zunächst und zumeist sich selbst im Blick hat. – So gilt nun auch in Sachen Design: An uns ist zu zweifeln, um in Zukunft nicht an uns zu verzweifeln.

(zuerst erschienen in KOMMA-Magazin 19, S. 53-55)