Selbst-Fern-Steuerung

Oliver Ruf gibt einen Sammelband zum Thema Smartphone-Ästhetik heraus, der das mediale Ökosystem der Gegenwart erkundet. Ästhetik und Gebrauch des Smartphones steuern uns dabei durch die hybriden Umwelten unseres Alltags und stellen die Frage nach dem Nutzer neu.

Smartphones sind mittlerweile eine Selbstverständlichkeit. Bestenfalls selbsterklärend gestaltet, gestalten sie zugleich Verständigungsweisen und Routinen, wo es um die Bewältigung eines im Grunde überfordernden Alltags geht. Ohne diesen transmedialen Assistenten sähen wir uns wohl hoffnungslos verloren – sei es im digitalen Dschungel, sei es in der Wüste des Realen.

Der Medien- und Gestaltungswissenschaftler Oliver Ruf hat nun einen Sammelband herausgegeben, der Orientierung darüber verschafft, wie dieses unscheinbare Gerät in unseren Händen zum Begleiter respektive Leiter durch all unsere Lebenslagen werden konnte – und zwar betrachtet Ruf diese Entwicklung unter ästhetischer Perspektive. Wenn hier von ‚Ästhetik‘ die Rede ist, meint dies jedoch weder das Vorurteil bloßer Aufhübschung, noch ein interesseloses Wohlgefallen am Schönen:

„Ist von Sinnen und Sinnlichkeit die Rede, geht es um Aisthesis und damit genuin um Ästhetik, verstanden […] als die theoretisch fundierte Akzentuierung von Wahrnehmbaren und Wahrnehmungsweisen.“

Medienökologie

Aisthesis im ursprünglichen Sinne auf das Design von Smartphones angewandt, bezieht sich also auf eine veränderte Wahrnehmung durch ein konvergentes Medium, das unterschiedliche Wahrnehmungsweisen und -gegenstände digital simuliert. Dies geschieht nicht allein im Hinblick auf eine sich rasant verändernde Lebenswelt, sondern gleichermaßen im Ausblick auf ein zunehmend autarkes „environment“, ein regelrechtes Medienökosystem, das in seinem Kommunikationshorizont wächst und gedeiht.

So zieht sich durch den bereits äußerlich gewinnenden Band ein roter Faden, an den die 15 durchweg soliden, bisweilen originellen Beiträge aus medien-, kunst-, designtheoretischer und auch philosophischer Perspektive immer wieder anknüpfen. Die Frage nach einer Medienökologie des Smartphones berührt etwa Wolfgang Hagen bereits im Titel seines erhellenden Beitrags „Inästhetische Ästhetiken. Über Smartphone-Bilder und ihre Ökologie“, um darauf auszuführen:

„Wenn ‚Innenwelt‘ und ‚Umwelt‘, wie Uexküll sagte, ‚durch den Bauplan miteinander zusammenhängen‘, dann entsteht eine Ökologie, in welcher das Objekt untrennbar mit seiner Umgebung verwoben ist. Das Sharing-System des Smartphones ist eine solche techno-soziale Ökologie […]. Am Beispiel der Smartphone-Ökologie wird […] deutlich, welche konkreten Symmetrien und Asymmetrien sichtbar werden, wenn man ins Detail geht. Das Detail aber zeigt, dass die Sensoren des Smartphones eine Art Mini-Ökosystem bilden, das die Handhabung des Geräts deshalb beeinflusst, weil es mit ihrer Hilfe eine ökosensorische Eigenlogik entwickelt.“

Selbst-Fern-Steuerung

Fast unnötig zu bemerken, dass die „Asymmetrien“ auf einem osmotischen Machtgefälle zwischen Usern am Front-End und „kapitalistischen Monopolkonzernen“, wie Hagen sich ausdrückt, am Back-End des Datenverkehrs beruht. Die detaillierte Ausgestaltung dieser „ökosensorischen Eigenlogik“ aber nimmt sich neben Wolfgang Hagen auch Isabell Otto zum Thema, die sich in dekonstruktivistischer Manier der flüchtigen Gemeinschaftsbildung in Zeiten von Snapchat widmet und in ihrem Beitrag „Interfacing als Prozess der Teilhabe“ unter anderem auf eine spezielle Einstellung der Applikation zu sprechen kommt:

„Die im September 2015 eingeführten ‚Snapchat Lenses‘ ermöglichen eine Transformation des eigenen Selfies ‚in Echtzeit‘. Die App nimmt hierbei eine Adjustierung des Gesichts vor, die mit Anweisungen an die Nutzerin eingefordert wird […] ‚Zieh die Augenbrauen hoch‘ für das Monokel-Selfie oder ‚Öffne den Mund‘ für das Regenbogen-speiende Selfie. Smartphone-User werden auf diese – unterhaltsame – Weise in der Synchronisierung mit den Display-Operationen des Geräts ‚zugerichtet‘.“

Während Snapchat-Nutzer für einen flüchtigen Augenblick Posen erproben und mit ihrer Community teilen können, ergehen gleichsam Befehle von fiktiven Photographen an fiktive Models, sich selbst darzustellen. Dieses Paradox wird dadurch noch verstärkt, dass Photograph und Model ein- und dieselbe Person sind, die von einem seinerseits identitätslosen Programm dazu angeleitet wird, in Gestalt von Selfies die Verfremdung bzw. Entfremdung ihrer selbst zu betreiben.

Wünscht man sich also unter den Augen eines Dritten in der eigenen Zweieinsamkeit eindrucksvoll zu präsentieren, darf man sich getrost den Suggestionen eines auf Regenbogenkotze programmierten Humors anvertrauen, um auch die Lacher noch auf seiner Seite zu haben. Das Smartphone (samt App) erweist sich dabei als eine Form von Selbst-Fern-Steuerung im Zuge einer fortgesetzten Synchronisierung mit dem digitalen Schwarm. Doch die Bilder und Blicke sind dabei, wie man wiederum mit Martin Warnke ergänzen kann, nicht allein „über eine Vielzahl von Beobachtern und Geräten verteilt.“ Sondern:

„Auswahl und Wahrnehmung der Bilder unterliegen komplexen sozialen und maschinellen Verschränkungen. Damit kann der Blick nicht mehr individuell oder subjektiv begründet werden. Das autonom blickende Subjekt ist Geschichte, denn […] der Blick hat sich entsubjektiviert und in ein zentrumloses Netz verteilt.“

Smarte Entselbstung

In Sachen Subjektivität ist aus Selbst-Unterwerfung spätestens mit dem Smartphone Selbst-Zerstreuung geworden, wodurch zugleich eine „ozeanische Verbundenheit“ hergestellt würde.

Dabei betrifft diese Entsubjektivierung sowohl die Geschichte selbst als auch die Geschichtlichkeit des Selbst im Sinne einer linearen oder auch dialektischen Narration von Ereignissen und Erfahrungen. Denn das „zentrumslose Netz“ hält uns heute auf andere Weise gefangen, wie Michael Holzwarth in seinem philosophisch informierten Beitrag „Narrationen des Selbst“ mit dem Untertitel „Das Smartphone und die neue Ökonomie der Aufmerksamkeit“ schildert. Indem die eigene Identität mehr und mehr zu einer Frage der Herstellung und der Verteilung innerhalb unterhaltungsintensiver Netzwerke werde, ginge der klassische Erzählbogen verloren. Smartphone-affin werden stattdessen vornehmlich spontane Eindrücke, gelegentliche Assoziationen oder vorübergehende Meinungen geteilt, im Ganze also eher Versatzstücke eines persönlichen Eventtheaters als aufeinander aufbauende Kapitel einer Autobiographie.

Positiv gewendet könnte dies auch heißen: „Je spärlicher […] die Zeugnisse zu einem Leben sind“, so Holzwarth, „desto freier erscheint der Mensch in der Erzählung des Selbst.“  Und dies aus dem Grund, dass er sich selbst nicht mehr andauernd an eine Rolle bindet.

Doch was meint das unter den Voraussetzungen einer algorithmisierten Selbstverwirklichung innerhalb einer programmierten Medienumwelt; mithin im globalen Ökosystem eines ‚Internet der Dinge‘? Denn erst vor diesem Hintergrund lässt sich verstehen, welche spezifische Funktion die Smartphone-Ästhetik erfüllt. Oder in den Worten Daniel Martin Feiges, der sich dem Thema unter der begriffsanalytischen Fragestellung eines „ästhetischen Funktionierens“ nähert: Wenn es keine Funktion ohne Gestalt gibt, was ist dann die Grundform der Gestaltung dieses Funktionierens?

Zwischen First-Person und Spectator View

Die Antwort geben zumindest ansatzweise die beiden Beiträge von Lisa Gotto, die eine „transformative Mobilität“, eine Vorliebe für das „Vorläufige“, für „Ubiquität“ und „Konnektivität“ in unserem Smartphone-Gebrauch beobachtet, sowie Timo Kaerlein, indem er betont, „dass mit dem Smartphone als miniaturisierter Computertechnik der Trend zum Spielerischen, zur Ästhetisierung von Interfaces und der so genannten „user experience“ noch stärker in den Vordergrund rückt als beim Desktop-PC und dass diese Entwicklung nicht losgelöst davon zu sehen ist, wie die mobile Computertechnik an der Rationalisierung und Ökonomisierung von Abläufen in Freizeit wie Beruf beteiligt ist.“

Oder kurz gesagt, die Antwort lautet: Gamification.

Die Funktion also innerhalb des gegenwärtigen Medienökosystems, so ließe sich der ästhetische Angebotscharakter, die „affordance“ des Smartphones zusammenfassen, entspricht der eines Controllers, mit dessen Hilfe wir uns durch unsere digitalisierte Lebenswelt daddeln. Augmented, Virtual und Mixed Reality oder auch ein sogenanntes Post-Internet, allen scheint ein spezielles Game-Design eigen, dass uns als Smartphone-User zugleich zu Avataren unserer selbst werden lässt, indem die Grenzen zwischen Simulation und Realität immer weiter verschoben, wenn nicht gar aufgehoben werden. In den Worten von Florian Sprenger, der die Befindlichkeit innerhalb eines Internet der Dinge überzeugend als Zustand mobiler Daueradressierung beschreibt: „Ein Außerhalb des Netzes ist im Netz nicht repräsentierbar.“

Wohin unsere Reise noch geht, obliegt also in wesentlichen Teilen der Selbst-Fern-Steuerung mithilfe eines vielgestaltigen Gamepads, das wir immer wieder aufs Neue zu bedienen lernen müssen, um unseren Alltag noch meistern zu können. Oder wie es Wolfgang Hagen zuletzt und durchaus kritisch in seinem zu Anfang bereits erwähnten Beitrag beschreibt:

„Wenn man etwas weiter hinten steht, kennt jeder dieses Schauspiel bei allen großen Events: dass die Bühne von hundertfachen Smartphone-Displays nach vorne hin schier verdeckt ist. […] Die Däumlinge des digitalen Ökosystems fühlen offenbar bei einem Ereignis nur dann, dass sie real da sind, wenn sie – sich anästhesierend – das Bild ihrer Realität als techno-ökologische Konstruktion vor Augen führen.“

Das heißt, erst dann, wenn die digital natives oder Däumlinge, als die sie Michel Serres vor einigen Jahren gerühmt hatte, sich spielend selbst von Ferne steuern, um ihre Wahrnehmungen vorsorglich zu bewahren, doppelt zu gewahren und letztlich zu bewahrheiten: Denn ganz hinten, in der ‚Technik‘, weiß man bereits, dass die Bühne zu einem Open-World-Szenario ohne Grenzen geworden ist.