Data Mining und digitaler Kolonialismus

In den Hochzeiten des europäischen Imperialismus kauften Konquistadoren und Kaufleute im Austausch für bunte Perlen ganze Inseln und Länder. Im 21. Jahrhundert sind unsere persönlichen Daten vermutlich die wertvollste Ressource, über die die meisten Menschen noch verfügen, und wir überlassen sie den Technikriesen im Austausch für E-Mail-Dienste und lustige Katzenvideos. (Yuval Noah Harari: Homo Deus. Eine Geschichte von Morgen, München 2017, S. 460)

Mochten die Konquistadoren des 16. und 17. Jahrhunderts noch die weißen Flecken der Landkarten erkunden und erobern wollen, heute erstrahlt alles bereits in einer blendenden Helle von augenblicklich abrufbaren Daten. Die globalisierte Welt ist kein sperriger Globus mehr, sie ist wieder zu einer Scheibe, zu einer Fläche, zu einer Unzahl schwarzer Rechtecke geworden, die man mit sich umherträgt.

Doch wer sind wir dabei, die wir auf diesem etwas eng gewordenen Planeten umherspazieren, während wir uns gleichzeitig in virtuellen Multiversen verlieren? Die neuen Herren der Schöpfung, zuständig für den Artenschutz von Würmern ebenso wie für das Weltklima?

Eher weniger. Auch den letzten liberalen Erdenbürgern dämmert mittlerweile, dass die meisten unter uns wieder zu Sklaven geworden sind, Sklaven, die geradeso ihr Leben meistern, ohne zu merken, dass sie es selbst sind, die von Gerätschaften, Applikationen oder Anbietern gemeistert werden. Wie es dazu kommen konnte, ohne dass man es eigentlich gemerkt hätte oder hätte merken sollen, ist eine lange Geschichte. Klar scheint nur, dass der heutige, digitale Kolonialismus sich von seinen Vorformen zumindest dadurch unterscheidet, dass wir selbst es sind, die sich bereitwillig preisgeben und zu Markte tragen.

Nach der Landnahme folgt die Ausbeutung. Was für unsere Außenwelt gilt, gilt gleichermaßen für unsere Innenwelt. Nach den Erkundungen der extensiven Dimensionen unserer Existenz kartographiert man nun auch die intensiven unserer Erfahrungen, Wünsche und Ängste. Die ehemalige terra incognita „Mensch“ scheint heute im Wesentlichen erschlossen, denkt man nur etwa an das Human Brain Project. So mag es kaum verwundern, dass man nun, wie es der Frühromatiker Novalis einmal formulierte, die Reise nach Innen antritt, um die inneren Schätze zu heben:

Wir träumen von Reisen durch das Weltall: ist denn das Weltall nicht in uns? Die Tiefen unsers Geistes kennen wir nicht. – Nach innen geht der geheimnißvolle Weg. In uns, oder nirgends ist die Ewigkeit mit ihren Welten, die Vergangenheit und Zukunft. (Novalis: Blüthenstaub, Fragment 16)

Doch in diesen Tiefen spukt mittlerweile nur noch ein Gespenst. Das Geheimnis scheint gelüftet und die innere Ewigkeit reif, digitalisiert zu werden: Im Zuge eines allumfassenden Data Mining steigt das heutige Quantified Self in seine eigenen Seelenschächte hinab, um dort seinen Sklavenarbeit für diverse Informationsdienste zu verrichten. Es sammelt Daten, Berge von Daten über ein Selbst, dass sich selbst nicht mehr versteht, ohne sich in Statistiken aufzulösen. Was man einmal Entfremdung nannte, kehrt heute wieder als bewusste, proaktive Selbstentfremdung: Man erhofft, Dinge über sich zu erfahren, ohne sie eigentlich erfahren zu müssen. Stattdessen übergibt man sich der Assistenz von Programmen, die einem schon mitteilen werden, woran es einem mangelt oder wo das geforderte Maß bereits erreicht ist. Alles in der Hoffnung, endlich der oder die zu werden, der oder die man nie war.

Mag man dies nun kritisieren oder begrüßen, unverkennbar stecken wir alle mehr oder weniger in der Situation, im Zeichen der Kontrollgesellschaft gerade dort die Kontrolle über uns selbst verlieren, wo wir sie gerade mit allen, vor allem digitalen Mitteln zu bewahren suchen.

Doch vielleicht geht es gar nicht mehr um Kontrolle. Vielleicht ist der ganze damit verbundene Sicherheitsbedürfnis, der Ruf nach totaler Transparenz und der Wunsch nach Ebenbürtigkeit von allem und jedem zuletzt eine bloße Begleiterscheinung. Vielleicht geht es gar nicht mehr um das klassische Herr-Knecht-Verhältnis, bei dem der eine immer hoch und der andere nicht runter will. Ja, vielleicht sind jene paar großen Teccompanys nicht mehr als eine Bande von Sklaventreibern, die selbst nicht weniger getrieben sind von ihrem Handeln und Handel – einem Handel, der sie umso mehr an ihre Sklaven kettet, desto mehr sie beabsichtigen, sie zu kontrollieren.

Stattdessen gewinnt man zunehmend den Eindruck, dass die eigentlichen Herren dieses Unternehmens eigentlich nirgendwo sitzen. Es handelt sich um Algorithmen, die streng genommen keinen Anteil an den nehmen, denen sie fortwährend mitteilen, was sie am besten als Nächstes tun sollten. Ihre Herrschaft ist die einer buchstäblichen Gleichgültigkeit. Und dennoch ist man ihr ausgeliefert, wie der unverbindlichen, doch zwingenden Autorität von Passanten, dieman nach dem Weg fragen muss, um wieder nach Hause zu finden.

Diese Gleichgültigkeit ist alt. Gott selbst muss es so ergangen sein, als man in seinem Namen fremde Länder reklamierte, ihre Einwohner missonierte oder massakrierte und das Gold dieser Wilden vor diesen Wilden in Sicherheit brachte. Selbstlos freilich und alles allein ad maiorem Dei gloriam