Geisterstunde der öffentlichen Meinung

Die öffentliche Meinung lässt sich nicht auf die Repräsentation durch die Wählerschaft begrenzen, sie ist von Rechts wegen weder mit einem Allgemeinwillen identisch noch mit der Nation, der Ideologie oder einer Summe privater Meinungen, die durch soziologische Techniken und von modernen Umfrageinstituten analysiert werden. Sie spricht nicht in der ersten Person, sie ist nicht Objekt und auch nicht Subjekt („wir“, „man“); man zitiert sie, beruft sich auf sie, man bringt sie zum Reden, läßt sie reden, wie ein Bauchredner es tun würde („das wirkliche Land“ [„le pays réel“], „die schweigende Mehrheit“, Nixons „moral majority“, Bushs „main-stream“ usw.); doch dieser „Durchschnitt“ wahrt zuweilen die Kraft, gegen die Mittel zu opponieren, die dazu taugen, „die öffentliche Meinung zu lenken“, er leistet Widerstand gegen „die Kunst, die öffentliche Meinung zu verändern“ […] Dieser Gott einer negativen Politologie kann aber ohne ein bestimmtes Medium kein Lebenszeichen von sich geben und am helllichten Tag erscheinen. (Jacques Derrida, Die vertagte Demokratie, Berlin 1992, S. 83)

Die öffentliche Meinung ist ein Gespenst, das zugleich an einem bestimmten Ort in Erscheinung tritt und doch nirgendswo zu fassen ist. Was an dieser Meinung von allen und keinem öffentlich genannt werde kann, ist eine gewisse Transparenz auf die Hintergründe ihres Spuks. Wo die öffentliche Meinung umgeht, werden die Gemäuer durchlässig, die Wände porös und selbst die dicksten Tore zu schlüsselfertigen Schlössern. Gespenster werden heraufbeschworen und lassen sich selten wieder vertreiben, es sei denn, der Fluch legt sich. Doch welcher Fluch? Was ist der Fluch der öffentlichen Meinung gerade in Zeiten wie den unseren, in denen sie allzu leicht totgesagt wird? Die Geisterstunde hat geschlagen, doch hören wir sie ein- oder ausgeläutet?

Wenn heute viel die Rede ist vom Tod der bürgerlichen Öffentlichkeit und einer kritischen öffentlichen Meinung, dann tönen diese Abgesänge meistens aus den Kellergängen der digitalen Katakomben herauf. Ist der Tintenfluss nicht bereits versiegt und die Druckerschwärze schon längst verblasst, sobald sie an den Trag tritt? Ist das Medium der Meinungsbildung nicht unlängst schon ins Digitale diffundiert, wo es sich beizeiten wie im Wetterwechsel zu Clouds zusammenzieht, in Shit- und Candystorms herabstürzt oder einfach in unzähligen Video- und Chatkanälen vor sich hinplätschert?

Und ist dagegen die öffentliche Meinung, wie sie durch den Blätterwald weht nicht tatsächlich nur noch der müde Hauch eines Kinderschrecks, vor dem man sich kaum noch zu fürchten hat? Wer heute noch an die Kraft kritischer Meinungen in den traditionellen Printmedien glaubt, handelt sich schnell den Vorwurf entweder des Ewiggestrigen oder des Aberglaubens ein. Und wer sich darauf gar für die Aufrechterhaltung einer redigierten Öffentlichkeit stark macht, muss bereits damit rechnen, als Kollaborateur der Zensur getadelt oder gar als Lobbyist der Lügenpresse  beschimpft zu werden.

Doch wer klagt in solchen Situationen eigentlich wen und zwar wo an? – Die Antwort scheint einer gewissen Fiktion, Fingiertheit, ja einer ironischen Finte letztlich kaum entraten zu können: Die Klage erhebt, betrifft und beurteilt die öffentlich Meinung selbst. Doch was meint diese öffentliche Meinung heute von sich selbst, dass sie sich gerade gegen die Öffentlichkeit ausspricht in der Meinung, von sich selbst nicht mehr repräsentiert zu werden?

Es könnte einem gruseln, läge hier in nicht zugleich die Komik, dass unser Gespenst sich gewissermaßen selbst in Angst und Schrecken versetzt – so als ob es sich zum ersten Mal im Spiegel sähe. Was sich heute zuträgt, ist nicht mehr, aber auch nicht weniger als der alte Spuk einer mediengestützten öffentlichen Meinung, die noch nie einfach nur eine, geschweige denn einhellig war. Gerade jene aber, die unter dem Vorwand der Aufklärung sogenannten Leitmedien den Vorwurf machen, ein Komplott zu bilden, sind gewissermaßen von dem eigenen Plot der Geschichte allzu sehr eingenommen, dass es am Ende immer eine und zwar eine einhellige Meinung über die öffentlichen Angelegenheiten geben müsste.

Das mag nun in manchen Ohren allzu optimistische klingen, scheint es doch zu Genüge Beispiel zu geben, die belegen, dass es in der Geschichte der modernen Demokratien durchaus immer wieder zu regelrechten Verschwörungen bestimmter Leitmedien gegen unerwünschte Zeitgenossen kam. Doch sich hierüber zu wundern, hat selbst das Verwunderliche an sich, dass ansonsten jedermann doch bereitwillig der anderen Seite des Januskopfes der Öffentlichkeit in die Augen blickt: Besprochen zu sehen, was besprochen wird, weil es besprochen wird. Famous for being famous. Die Aufmerksamkeitsökonomie der öffentlichen Meinung folgt der der Kapitalakkumulation. Entsprechend entsteht ehernes Schweigen weniger über Dinge, über die man schweigen sollte, als über ein Schweigen, das selbst gar nichts von einem Verschweigen weiß. Mit anderen Worten: Manche Meinungen werden allein darum nicht öffentlich, weil sie schlicht   niemanden interessieren, und wo sie sich dennoch kundtun, nicht kolportiert werden. Das Gegenteil von Gerede muss nicht immer das Verschweigen sein. Man kann auch Gerede verschweigen oder es erst gar nicht zur Kenntnis nehmen. Es gibt eine Indifferenz, auf die mancher  kaum hören will, der um Gehör bettelt; keine böswillige und dennoch eine gnadenlose Indifferenz, die ihrerseits auf niemanden hört: Stille.

Wenn demnach nicht alles Unerwähnte der öffentlichen Meinung Totschweigen ist, sondern beizeiten vielmehr das vermutete Schweigen eher selbst tot ist, dann nähern wir uns erneut dem Gespenstischen einer öffentlichen Meinung, die bei Lichte betrachtet gewissermaßen sofort vergeht, sobald sie nicht in den unterschiedlichsten Medien ihre Zuflucht findet. Denn in der Tat gibt es nicht die eine Repräsentation, die eine Identifikation oder die eine Instanziierung der öffentlichen Meinung und zwar schon allein aus dem Grund, dass sie keine Meinung mehr über etwas wäre, sondern geradewegs die Wahrheit desjenigen, dass sie stattdessen nur in Umlauf bzw. in den Diskurs der anderen Meinungen einbringt. Die öffentliche Meinung ist also per se bereits eine Pluralität von Meinungen, die gerade darin ihre Bedingung der Möglichkeit und Unmöglichkeit finden, dass sie sich in den unterschiedlichsten Medien zu bestimmten Zeiten und Orten verstreuen.

Wollte man es hingegen darauf ankommen lassen, die öffentliche Meinung durch einen totalitären Übergriff in die Hand einer bestimmten Partei zu bringen, so sähe man sich doch zuletzt dadurch vor das Problem gestellt, dass die öffentliche Meinung als Appellationsinstanz und Legitimationsbasis allein dort ihre Funktion erfüllt, wo sie sich als eine weitere Macht, gern auch als die vierte, behauptet oder als solche wenigstens behauptet wird. Selbst wo es einem Big Brother im Sinne George Orwells gelingen würde, jede Form der Informationsübertragung durch eine ausgeklügeltes System des Brain washing auf Parteilinie zu bringen, so würde sich doch zuletzt diese „Partei“ als „Teil“ (eines Ganzen zugleich anderer Teile) selbst konterkarieren. Wo die Partei nicht zumindest die Illusion aufrechterhält, lediglich ein Teil zu sein, statt das Ganze selbst, dort macht sie gerade die sie stützende Instanz einer unabhängigen öffentlichen Meinung und damit sich selbst als Illusion eines bloßen Teils, statt des Ganzen, zunichte.

Es braucht den Anderen bzw. die Anderen, sei es bei Orwell jenen Erzfeind, mit dem ein ewiger Krieg im Sinne des polemos herrscht, oder bei Staatsparteien vom Format der NSDAP, deren Führer sich immer noch durch die Ausnahme eines winzigen Prozentteils an Gegenstimmen von der Regel und Regelmäßigkeit der eigenen Herrschaft versichern müssen, mithin die Alternative im Sinne eines möglichen Bürgerkriegs, der stasis. Aber der Andere oder die Anderen, was sind sie anderes als die eigene Frage in Gestalt: die Anerkennung des Eigenen in der Meinung des Anderen oder in anderen Meinungen; kurzum: die anerkannte öffentliche Meinung, dass es überhaupt eine öffentliche Meinung, will sagen: dass es überhaupt öffentlich sichtbar eine andere Meinung als nur die eigene geben sollte – hätte man doch ansonsten nicht einmal eine Meinung über sich selbst als jemand anderes als die anderen (der es meinetwegen auch verdient, dass alle anderen ihn als ihren Meinungsführer wählen…).

Ein absolut-totalitärer Staat dagegen bräuchte keine öffentliche Meinung mehr, weil er bereits die offene und eigentümlichste Wahrheit seiner selbst wäre – eine Wahrheit freilich, die eigentlich nichts mehr meinte oder bedeutete, was andere noch interessieren könnte. Triumphale Stille, sei sie auch noch so erhaben über jedes Gerede, beantwortet der Mensch zunächst mit Schweigen, dann mit Verschwiegenheit und zuletzt mit einer Verschwörung gegen das Verstummen – sei es im Zuge eines polemos oder einer stasis.

Solange jedoch ein Staat mit der Tendenz zur Totalisierung noch darauf setzten muss, eine öffentliche Meinung für sich zu gewinnen (wie es bei den Volkstribunen/Populisten und Diktatoren stets der Fall ist) oder sie zumindest vorzuschützen, solange durchzieht einen totalen Konsens doch ein auch noch so zarter Riss. Mag der Riss auch hauchfein sein, irgendwann und irgendwo wird diese makellose Einhelligkeit von diesem feinen Hauch wie von ihrem Wiedergänger eingeholt werden – und von Geisterhand auseinanderbrechen.

Diese unsichtbare Hand ist, war und wird nie sein die eines einzigen „Gottes“ jener „negativen Politologie“. Die öffentliche Meinung wäre keine, wäre sie nur eine. Mehr als ein einsames Gespenst, war die öffentliche Meinung stets eine ganze Geisterschar von Phantasmen, Geschichten, Geheimnissen, Verschwörungen, Entdeckungen, Wahrheiten und auch Lügen. Darin besteht ihr göttlicher Fluch – aber auch ihr göttlicher Segen.