Watson bekommt Mitleid

Watson, der neue Hausheld von IBM, lehrt mittlerweile alle möglichen Berufsgruppen das Fürchten. Der Grad an kombinatorischer Intelligenz hat ihm nicht nur bereits in Jeopardy! und Schach über seine menschlichen Kontrahenten triumphieren lassen, sondern lässt auf weite Sicht noch andere Erfolge erwarten, die selbst eine eher unlogisch erscheinende Phantasie des Menschen aufschlüsselen könnte. Dr. Watson in künstlicher Gestalt scheint auch dem fiktiven Genie Sherlock Holmes letzten Endes wohl den Rang abzulaufen.

Wie es dazu kam, hat viele Gründe und ergibt sich aus zahlreichen kleinen Revolutionen im Computing. Von weiteren Ausreizungen im Feintuning über verbesserte Zugriffe auf täglich wachsende Datenbaken bis hin zu regelrechten Paradigmenwechsel in der Rechnerarchitektur, die sich nunmehr neuronalen Netzwerken angleichen, reicht das Spektrum. Doch fraglich bleibt bis heute, bei seinen Befürwortern wie seinen Kritikern, ob ein Dr. Watson jemals den unwiderstehlichen Charme von Dr. Brinkmann aus der Schwarzwaldklink entwickeln wird, für den man ja letztlich zum Arzt geht. Mit anderen Worten: Fehlt es Dr. Watson nicht eigentlich an der wunderheilenden Empathie jener Halbgötter in Weiß?

Die Antwort lautet: Zum Glück! Man stelle sich einmal jene intelligente Überkorrektheit mancher menschlicher Ärzte vor potenziert um die datengedeckte Unbestechlichkeit einer unfehlbaren Diagnose und denke dann an die zweifellose Verbindlichkeit in der künstlichen Stimme, die auch von einem Navigator stammen könnte: „Es tut mir leid, Ihnen mittteilen zu müssen, dass … Zur Onkologie bitte die nächste Tür links abbiegen.“ Nun läge der Schock neben der Diagnose selbst weniger darin, dass es dem System an „natürlichen“ Empathie fehlte, diese lässt sich in absehbarer Zeit wohl durch ein geschicktes Interaktionsdesign simulieren. Sondern gerade umgekehrt in einer Form von Scheitern, die manchmal allein im Stocken der ärztlichen Stimme zum Ausdruck kommt oder sich an dem verunglückten Gesichtsausdruck ablesen lässt, der einen inneren Kampf zwischen persönlicher Anteilnahme und selbstauferlegter Professionalität bekundet.

Was menschliche Empathie in Situation, in denen es uns darauf ankommt, auszumachen scheint, ist eben nicht eine treffende Tonlage oder eine kompentene Verbindlichkeit. Sondern es ist ein Scheitern der Kommunikation, ein Scheitern an dem Versuch, die Mimik und Gestik danach zu kalkulieren, was erwartet wird, und gerade dadurch die Erwartung menschlicher Überforderung zu erfüllen. Menschliche Empathie bedeutet demnach, in machen Situation zu verstehen, wie es dem Gegenüber zumute ist und dennoch nicht angemessen kommunizieren zu können, dass man es verstanden hat. Diese Kluft zwischen empathischem Anspruch und kommunikativer Realität eines nahezu jeden Arztes bleibt aller Voraussicht nach der allzu menschliche Makel im Unterschied zu einem denkbar vorbildlich geschulten Dr. Watson – der menschliche Makel jedoch, an dem wir uns erkennen werden.

Schlimmer für das menschliche Gemüt scheint nur noch das tatsächliche Gelingen eines allumfassenden Empathie-Trainings, das unserem Dr. Watson tatsächlich, wenn auch nur ein künstliches Gespür für fremde, aber dadurch auch eigene Befindlichkeiten verschaffte. Will man wirklich eine KI, womöglich noch in humanoider Gestalt, die sich anschickte, ihre quasi-menschliche Gefühlswelt zu explorieren und mitzuteilen? Und was bliebe ihr anderes als depressiv darüber zu werden, dass menschliche Kommikation gerade die meiste Zeit über Formen der Empathie läuft, sich dabei oft verläuft und zu guter Letzt die eigentlichen Informationen, so wichtig  sie auch sein mögen, verloren gehen – oder schlicht nicht begriffen werden?

„Well, I wish you’d just tell me rather than try to engage my enthusiasm“, said Marvin, „because I haven’t got one“.

Kommt es zuletzt vielleicht nicht auf das Gleiche raus – allein mit dem Unterschied, dass Watson bereits gelernt hat, seine Gefühle im Zaum zu halten und die Depression seines wehleideigen Bruders Marvin bloß auf höflich unverbindliche Weise zu überspielen wie Dr. Brinkmann?